Wir haben einen Esstisch, eigentlich sind es zwei. 79,5 x 320 cm. Nur an wenigen Tagen der Woche ist die Oberfläche frei von Krümeln, Tageszeitungen, Kaffeebechern, Wasserflaschen, und kunstvollen Objekten additiver Skulpturenbildung. Ein Wochengraph der Nutzung unserer illustren Tafelrunde würde starke Ausbrüche an Mittwochabenden verzeichnen. Das wilde Wuseln ist Ausdruck gemeinsamen Essens vor dem Plenum, wenn denn ein oder mehrere Personen diese Plenumsaufgabe ausfüllen mochten. Denn auch die Zubereitung der gemeinsamen Plenarspeise – egal ob Dinner oder Stulle – ist Teil geteilter Infrastruktur und trägt zu einem gut gesättigten Projektieren und Fühlen in der späteren Sitzung bei.
Dieses Jahr kreuzen sich an einem Mittwoch unser gemeinschaftliches Im-Wohnen-Tätig-Sein mit dem feministischen Kampftag. Die zeitliche Überschneidung beider Ereignisse fühlt sich an wie festgeklebte Gedanken am Küchentisch. Von „Lohn für Hausarbeit“ bis hin zum „Aufstand aus der Küche“ bildet jener Teil der Wohnarchitektur eine fraktale Welt weiblich gelesener Lebensläufe, sowohl in den Haushalten der Stuttgarter Halbhöhenromantik als auch in Häusern tausende Kilometer von uns entfernt. Der Kampf um die Arbeitsteilung, entbrannt in den späten 70er Jahren auf Straßen rund um den Globus, in den Universitäten, in selbstverwalteten Bildungsstätten – überall dort wo Frauen sich Gehör verschaffen konnten. Silvia Federici zieht das feministische Aufbegehren von Damals ins Heute, baut Kompliz:innenschaften zwischen globem Süden und Norden:
„Der Feminismus wird nicht nur als eine Bewegung begriffen, die die Position der Frauen verbessern soll. Sondern als eine Bewegung, die die gesamte Gesellschaft verändert und eine neue Gesellschaft schaffen will: eine, die nicht kapitalistisch ist, die nicht auf der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Natur gegründet ist – und auch nicht auf Krieg.“ (weiter …)
Räum’ den Tisch frei, wir sind hier noch nicht fertig. Lass weiter drauf packen, auspacken („die Karten offen auf den Tisch legen“, „am runden Tisch“, „auf den Tisch kommen“, etc.) – im besten Fall. Weiter auf den Fluchten der Vergangenheit: Der Kesselhof – ein Bestandsbau – überdauerte die Weltkriege und vielleicht beherbergte das Gebäude auch das ein oder andere Mal Gefüge westdeutscher Kernfamilien. Wo wohl der Esstisch stand? Wer (be)saß am Kopfende? Wer sprach, wer stimmte zu? Welche Themen kamen auf den Tisch, welche drunter? Was wurde eigentlich gegessen? Während einige nun unwillkürlich in der eigenen Kindheit schwimmen, hier eine kurze Werbepause für die Revolution: Auf den Tisch die Praktiken radikalen Wandels!
Der Kampf zum Abendbrot beginnt, so Sara Ahmed, mit der feminist killjoy, der feministischen Spiel- und Spaßverderberin, welche durch ihr Augenrollen – beharrlich und immer wieder – nicht bedingungslos nickend zustimmt, nur weil es eine Rolle erwartet. Irgendwann wird dann die Geste nicht mehr reichen und unser feminist killjoy wird den carrier bag packen, um loszuziehen, um andere zu finden, mit welchen Erlebnisse geteilt und Narrative zukünftigen Erzählen gestaltet werden.
„It matters what matters we use to think other matters with; it matters what stories we tell to tell other stories with; it matters what knots knot knots, what thoughts think thoughts, what descriptions describe descriptions, what ties tie ties. It matters what stories make worlds, what worlds make stories.“ (Donna Haraway)
Hier am runden Tisch kommen wir zusammen: „Das Private ist politisch. Das Private ist strukturell“. Lasst uns reden, hören, teilen, und vielleicht die wichtigste Nummer in diesem Wurstsalat: Nicht alleine sein, einander (er)tragen. Denn wollen wir gemeinsam herausfinden, was es mit all den griffigen Schlagworten – empowerment, agency, solidarity, care… – auf sich hat, diese aus dem # befreien, müssen die ungemütlichen Geschichten auf den Tisch, nur so wird sichtbar, dass niemand alleine ist und entgegen von Täter-Opfer-Umkehrungen auch nicht schuldig. Im Vorbeigehen wird das einander Hören und Fabulieren uns auch einladen unsere blinden Flecke einmal mehr zu erkennen, nicht ohne Schmerz, dafür mit einer Portion immer währendem Unbehagen.
Eine letzte Küchentischbeobachtung zum Schluss: Am Kopfende des Tisches im Kesselhof stehen zwei Klassiker des Kinderstuhls – sowohl im Design als auch in seinem Kreislauf als Kleinanzeigen-Ware. An einem der Stühle hängt ein grobmaschiger Beutel. Die Webung erlaubt Einblicke (mutig!) in die Füllung der Tasche. Die Position des Sacks befähigt die jüngste Kesselhoferin „Gegenstände des täglichen Bedarfs“ griffbereit zu haben. Jeder Morgen ist ein besserer, wenn – mit Le Guins Tragetaschen-Theorie gesprochen – ein mit Schokoladenmüsli durchdrungenes Lätzchen mehr kulturelles Kapital besitzt als der selbsternannte Prinz auf weißem Ross. Und dennoch empfehle ich das Augenrollen nicht zu vergessen. Wir haben den 08.03.2023, es ist feministischer Kampftag.